Das Schlammädchen (Teil 3)


Sie hatten eine neue Wohnung bekommen. In einem Neubaublock. So funkelnagelneu, dass die Wände bisher noch keinen Fetzen Tapete zu sehen bekommen hatten. Der blanke Beton, aus denen die Wand- und Deckenplatten gegossen waren, war die einzigste Zier.
Es schien, als wäre er gerade erst erkaltet. Überall roch es nach warmem Zement. Das Grau in Grau des Betons wurde nur durch das Weiß der Plastikfenster und die imitierte Holzmaserung der Türen ein wenig aufgehellt.
Die ersten Mieter der beiden nebeneinander stehenden Blöcke, waren schon eingezogen.
Die meisten aber waren noch beim Tapezieren. Sie alle arbeiteten im Plattenwerk. Es befand sich gleich neben den Wohnblöcken.
Zumeist junge Familien, die schon lange eine Wohnung gesucht hatten und bisher zusammen mit ihren Kindern in irgendwelchen Behausungen leben mussten, freuten sich auf ihr neues Zuhause.
So herrschte in dem Block eine freudige Aufbruchsstimmung.
Nur an den Wochenenden kehrte einigermaßen Ruhe ein.
M. hatte eine Woche Urlaub genommen. In dieser Zeit wollte er die Vier-Raumwohnung die man ihnen zugeteilt hatte, tapeziert haben.
Das erste Mal in seinem Leben musste er Decken tapezieren.
Da er nun mal kein Profi war, hatte er sich einige Hilfsmittel ausgedacht und zusammengebaut.
Unter anderem auch einen Laufsteg. Er bestand aus zwei Bauböcken mit darüber gelegten zusammengenagelten Bohlen.
Der Laufsteg hatte gerade die Höhe, die ihm ermöglichte mit ausgestreckten Armen die Decke zu tapezieren.
Er hatte schon einige Bahnen an die Decke bekommen. Doch der Anfang war schwierig und er geriet ins Schwitzen.
In diese Situation hinein fing unten vor dem Haus ein kleines Mädchen an zu rufen.
M sah aus dem Fenster. Das kleine Mädchen stand mit beiden Beinen mitten im Schlamm des noch unbefestigten Vorplatzes.
Unerbittlich hielt der Schlamm, eine zähe Lehmpampe, ihre kleinen Beinchen fest. Auch nicht ein ganz kleines Bisschen kam sie vor oder zurück.
M. dachte sich, die Eltern oder Vorbeigehende würden sich schon um die Kleine kümmern.
Doch das Schreien hielt an. Es verging einige Zeit und noch eine Zeit. Es geschah nichts.
Langsam wurde M. nervös.
Eigentlich war er ein Kinderfreund, doch das immer wieder in gleicher Höhe und Intensität vorgebrachte Gejammer machte seine Arbeit um ein Mehrfaches schwieriger.
Kümmerten sich die Eltern der Kleinen denn gar nicht um ihr Kind? Hatte denn niemand mit der Kleinen Erbarmen? Ließ das Gejammer denn alle kalt?
Es war Sonnabend, wahrscheinlich sah man fern und hatte bequemer Weise das Gerät lauter gestellt.
Es half nichts, M. musste eine Pause einlegen. Er ging hinunter, zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte die Hosenbeine hoch und ging zu der Kleinen.
Ihr ganzer kleiner Körper bebte vom Schluchzen. Schnodder und Tränen hatte sie sich zusammen mit dem Schlamm um Nase und Augen geschmiert. Eigentlich zum Lachen.
Doch es kam M. gar nicht erst in den Sinn, als er die zuckenden Schultern des Mädchens berührte und ihm die Ängste deutlich wurden, die die Kleine ausgestanden hatte.
Er hob sie aus ihren Stiefeln heraus, stellte sie auf eine Laufbohle, ging zurück und pulte die steckengebliebenen Stiefel aus dem Schlamm.
Als er sie dem Mädchen in die Hand gab, lächelte diese ihn schon wieder etwas verstohlen an. Dann gingen beide in ihren jeweiligen Eingang.
M wusch sich die Füße und nahm seine Schnitten aus dem Beutel.
Beim Essen ging ihm die ganze Szenerie noch einmal durch den Kopf.
Er war der Kleinen nicht gram. Eigentlich tat sie ihm leid. Wie oft kann man im Leben in Situationen und Umstände hineingeraten in denen einem der Schlamm nicht nur in die Stiefel läuft, sondern das Wasser bis zum Hals steht. Da nützt kein Strampeln und kein Schwimmen. Aussichtslos versinkt man nur noch tiefer.
Wo ist da eine Selbstverwirklichung möglich? Menschen sind immer wieder mal auf Hilfe angewiesen. Doch wer erkennt immer, dass jemand Hilfe braucht? Und ist auch bereit sie zu geben? Er kannte das Schmoren im eigenen Saft. Dieses Alleingelassenwerden. Er hatte dies auch schon bei anderen Kindern mit ihren Eltern so beobachtet.
Wie dankbar ist M. dem Herrn Jesus, dass dieser ihn aus der Not der Einsamkeit herausgerettet hat. Ihm Freiheit und weite Bahn gegeben hat. Möge er auch dem kleinen Schlammmädchen auf seinem Lebensweg begegnen.
So sei gesegnet kleines Kind.
Und auch du, schon etwas größerer Maik, der du ebenso unter der Einsamkeit leidest, in die man dich hineingestoßen hat, weil man dich nicht wollte, weil du im Wege standst, deine Existenz nicht war haben wollte.
Du wirst so Manches in deinem Leben verkehrt machen, weil man dir keine Möglichkeit gegeben hat sie zu lernen und dadurch in Nöte und Konflikte hineingeraten.
Wie auch das kleine Schlammmädchen.
Es reicht nicht über Liebe zu reden.
Man muss in ihr leben, sie erleben.
Nur dann kann man sie leben.
Der Herr Jesus aber schenkt sie den Kindern.


(Autor: Manfred Reich)


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