Eine Religionsstunde, wie sie nicht im Programm stand


Unter all dem, was die Tätigkeit eines Pfarrers ausmacht, gehört für Arnold Taubert der Religionsunterricht im Gymnasium in seiner kleinen Stadt zu dem Schönsten. Da. weiß er sich als Sämann, der den Samen des göttlichen Wortes in die jungen Menschenherzen streut. Und er durfte schon erleben, dass so manches Samenkorn aufging, zu zartem Pflänzchen heranwuchs, kräftig gedieh. Freilich, ein erholsamer Feldspaziergang ist dieser Unterricht nicht. Nicht alle Samenkörner fallen auf fruchtbares Land.

Pfarrer Taubert erlebt es: In seinen Religionsstunden sitzen auch Schülerinnen und Schüler, die noch nicht zum Glauben gefunden haben, denen es noch an Glaubenserfahrungen fehlt und die deshalb voller Zweifel sind, und auch solche, die sich sträuben, an einen Gott zu glauben, die von den Eltern in den Religionsunterricht geschickt werden, weil sie ihre Kinder dort am besten aufgehoben meinen.

Gerade solche jungen Menschenkinder sind es, die ihm – bildlich gesprochen – Bälle zuwerfen und dann gespannt darauf warten, wie er reagieren wird. Vielleicht in der Hoffnung, dadurch Antwort zu bekommen auf eine Glaubensfrage, die sie bedrängt, die sie aber – oft aus Scham vor den Mitschülern – nicht direkt auszusprechen wagen. Vielleicht aber auch in schadenfroher Erwartung, den Lehrer in Verlegenheit zu bringen und sich damit vor den anderen brüsten zu können. Arnold Taubert weiß, er muss diese Bälle auffangen und zurückwerfen, er darf sie nicht unbeachtet wegtrudeln lassen oder gar ärgerlich reagieren; sonst gilt er in den Augen der Schüler als Spielverderber und hat eine Chance verpasst, guten Kontakt zu ihnen und ihre Achtung zu gewinnen.

Als er letzte Woche in seine unlängst übernommene 10. Klasse trat, prangte an einer der beiden Tafeln hinter dem Pult unübersehbar, dick, großbuchstabig, mit Kreide geschrieben:

GOTT IST TOT. (NIETZSCHE)

Das war so ein geworfener Ball. Den musste er auffangen. Fast zwanzig Augenpaare verfolgten seinen Gang zum Pult. Die Tafelinschrift trug ein unsichtbares Ausrufezeichen: Nehmen Sie den Ball an! Es war mucksmäuschenstill im Klassenzimmer. Alle warteten gespannt, wie Pfarrer Taubert reagieren würde. Ein unsichtbares Fragezeichen gesellte sich zu dem Ausrufezeichen: Was wird er sagen, wie kann er parieren?

Arnold Taubert erinnerte sich sogleich: Eben diese Aufschrift, unschön hingesprayt, hatte er unlängst an einer Mauer seiner Kirche lesen müssen. Von dorther war den Schülern wohl die Idee gekommen, diese Herausforderung in den Klassenraum zu tragen. An der Kirchenwand hatte jemand vielleicht seinen – wie auch immer begründeten – Unmut über die Kirche loswerden wollen, oder es war der Ausdruck des Frusts eines Enttäuschten über sein in seinen Augen missglücktes Leben, oder es war auch dies das Fragezeichen eines Orientierungslosen, dem noch ein Fünkchen Hoffnung im tiefsten Herzensgrunde glomm, dass dieser totgesagte Gott doch noch lebe. Taubert hatte es bedauert, dass er mit dem anonymen Wandbeschrifter nicht ins Gespräch kommen konnte. Er hatte lange überlegt, was er ihm sagen würde, wenn er die Möglichkeit hätte, ihm zu antworten.

Diese Überlegungen kamen ihm jetzt zustatten. Nun hatte er für sie ein Gegenüber. Und er reagierte anders als die Schüler wohl annahmen: Er schritt zur Tafel, nahm – nein, nicht den Wischlappen, um den herausfordernden Satz wegzuwischen, den hätte er damit zwar von der Tafel, aber nicht aus den Gedanken der Schüler entfernt ... nein, Arnold Taubert nahm seinerseits das Kreidestück und schrieb etwas an die Tafel. Als er zur Seite trat, las die Klasse einen zweiten Satz, mit ebenso großen Buchstaben:

NIETZSCHE IST TOT. (GOTT)

Damit hatte Taubert schon den zugeworfenen Ball aufgefangen, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben. Die Schülerinnen und Schüler sahen sich vorerst überrumpelt, denn sie hatten fest mit einer mündlichen Reaktion des Lehrers gerechnet, wie auch immer sie ausfiele. Diesen Überraschungseffekt genoss Taubert erst einmal für lange Sekunden des Schweigens. Es war ja ein doppelschichtiger Effekt, der sich sowohl aus Tauberts ungeahnter Verhaltensweise als auch aus seiner inhaltlichen Antwort ergab, die nun ihrerseits die jungen Leute herausforderte: Was sagt ihr nun dazu?

Der Lehrer spürte: Er hatte bei ihnen Terrain gewonnen. Er hatte sich nicht als Spielverderber gezeigt. Hätte er verärgert gefordert: "Wischt das weg!" oder auch selbst mit einem kommentarmageren "Das ist ein großer Irrtum" die Tafelaufschrift weggewischt, dann hätte er kaum Pluspunkte bei den Schülern gesammelt, vielleicht sogar seine Autorität verspielt. Junge Leute sind da sehr sensibel. Aber so ... Nicht, dass sie nun gleich alle Vorbehalte aufgegeben und ihm sofort zugestimmt hätten. Das hätte ihm ohnehin nicht gefallen, denn sie sollten sich doch ihre eigenen Meinungen erarbeiten. Er wusste: Nur Meinungen, zu denen man sich hart hindurchgerungen hat, sind beständig. Und er wollte ja keine Samenkörner aufs Steinige säen, wo sie bald austreiben, aber die Triebe schnell wieder verdorren, weil sie keine tiefe Wurzel haben. "Ich arbeite für die Ewigkeit", hatte er einmal jemandem mit neckischem Lächeln in den Mundwinkeln gesagt, sodass der andere verunsichert nicht wusste, ob er das ernst nehmen sollte oder nicht, bis ihm Taubert aus der Verlegenheit half, indem er ergänzte: "Wenn ich Menschen zum Glauben führe, dann öffnet sich ihnen die Pforte zum ewigen Leben."

Jetzt aber ging's für Arnold Taubert erst einmal um die Augenblickssituation, nicht um die Ewigkeit. Eigentlich war ja das Thema Ewigkeit sein Programm für diese Unterrichtsstunde, aber er ist kein Dogmatiker, der um jeden Preis sein Programm erfüllen will. Die Schüler sind nicht für die Erfüllung des Programms, sondern das Programm ist für die Formung der jungen Menschenkinder da. Und wenn es nun plötzlich ein näher liegendes Problem gibt, dann ist eben dies der Programmpunkt dieser Unterrichtsstunde – Punktum! Gerade das ist doch das eigentliche Programm: den Schülern Antwort auf ihre Glaubensfragen zu geben, um Glauben zu wecken und zu stärken.

So begannen sie lebhaft miteinander zu diskutieren. Erst, ob denn nun Gott tot sei oder nicht, dann aber schon, warum er denn nicht tot ist, und schließlich konnten sie sich – unter Tauberts geschickter gedanklicher Regie – darauf einigen, dass Gott tot ist für Menschen, die gottlos sind, weil sie ihm die Pforte ihres Herzens, an die er klopft, nicht öffnen, wodurch er in ihre Herzen nicht einziehen kann und sie somit sein lebensvolles Wirken nicht verspüren können, sodass sie ihn tot wähnen, dass Gott aber ganz lebendig ist für all die Menschen, die Ja zu ihm sagen und deshalb sein segensreiches Wirken immer aufs Neue erfahren, und dass Gott nicht zuletzt gerade auch durch diese Menschen lebendig wird, die in seinem Auftrag und in seinem Geiste auf unserer Erde tätig sind – denn Gott braucht auch die Hände der Menschen. Eigentlich wollte Pfarrer Taubert auch noch den Herrn Jesus ins Gespräch bringen; damit hätte er seine Gedanken vom lebendigen Gott noch bestärken können, doch der Blick zur Uhr ließ ihn davon für diesmal Abstand nehmen, denn im Gegensatz zu seinem Stundenprogramm konnte er die Zeitvorgabe der Unterrichtsstunde nicht umkrempeln.

Doch eine Überraschung durfte er gegen Ende der Stunde noch erleben: Martina, die er als etwas zurückhaltend, ja schüchtern einschätzte, kam plötzlich unaufgefordert nach vorn, nahm sich die Kreide und schrieb, mit Buchstaben, welche die der beiden anderen Tafelinschriften, an Größe noch übertrafen:

GOTT LEBT

Im leicht geröteten Gesicht ein Lächeln – war es verlegen, war es verschmitzt? –, so ging Martina wortlos zu ihrem Platz zurück. Sie erntete keinen Protest bei den anderen. "Wieder ein aufgegangenes Samenkorn", freute sich Arnold Taubert und las noch einmal laut vor, obwohl alle es lesen konnten: "Gott lebt ..." – und leise, mehr für sich, fügte er hinzu: " ... in Ewigkeit", in sich hineinschmunzelnd, weil er an sein eigentliches Stundenthema dachte, dem er nun schließlich auf diese Weise Genüge tat.


(Autor: Dieter Faulseit)


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