Richtet nicht!



"Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn nach welchem Recht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst."

Matthäus 7, 1-5

Paulus wurde von den Korinthern gerichtet, und er stand wegen seiner Evangelisationstätigkeit häufig auch vor den staatlichen Gerichten der Römer als auch der religiösen der damaligen jüdischen Obrigkeit. Damit machte er die Erfahrung, die wir im Grunde alle mehr oder weniger machen: Wir werden be- und verurteilt.

Dafür müssen wir nicht unbedingt vor einem Gericht stehen; zum Glück hat das für die Meisten Seltenheitswert. Den Richtgeist sehen wir alle jedoch im Alltag: Diejenigen, die sich bewerben - und das sind in unseren Zeiten nicht Wenige - werden von den Unternehmen beurteilt, und deren Urteil ist sicher nicht immer optimal, weil man wegen seines Alters oder Körpergewichtes abgelehnt wird ohne Rücksicht darauf, dass man erhebliche Erfahrungen mitbringt, und auch Übergewichtige können in den allermeisten Fällen sehr gut und ebenso schnell arbeiten. Für Menschen, die sehr viele Bewerbungen schreiben müssen und sich für jede Einzelne Zeit nehmen und auch viel Geld investieren, ist es zudem besonders grässlich, wenn Unternehmen sie nicht einmal genügend wertschätzen, um bei einer Absage die Bewerbungsunterlagen zurück zu senden.

Selbst im Alltag werden wir be- und verurteilt, oft schon, weil wir in einem bestimmten Stadtviertel wohnen. Wer in Hamburg-Blankenese wohnt, hat es leichter, einen Kredit zu bekommen als jemand, der auf Sankt Pauli wohnt. Allein die Adresse genügt, da helfen dann auch keine Einkommensnachweise mehr.

Andere haben es leichter bzw. schwerer, weil sie aus einem ganz bestimmten Elternhaus kommen. Und auch unabhängig von diesen Äußerlichkeiten werden wir nach unserem Äußeren beurteilt, nach unserem Gesicht und unserer Nase. Im Bruchteil einer Sekunde entscheidet sich, ob uns ein Mensch sympathisch ist oder nicht. Wir be- und verurteilen ihn. Doch kennen wir sein Herz? Woher nehmen wir uns oft das Recht für schnelle Urteile? Wenn jemand uns jemand unfreundlich entgegen tritt, dann kann es doch auch daran liegen, dass er Stress hatte, sich vielleicht schlecht fühlt oder starke Schmerzen hat, die ihn tage- und vielleicht sogar wochenlang keinen Schlaf finden lassen.

Es geht hier nicht darum, billige Entschuldigungen zu finden. Bei allem, was falsch läuft, müssen wir uns jedoch erst einmal selbst fragen, was wir ändern und verändern können an uns selbst. Wir tun gut daran, den Balken aus unserem eigenen Auge zu entfernen, bevor wir uns um die Splitter im Auge des Anderen kümmern.

Selbstverständlich ist es richtig, auch das zu benennen, was wir für falsch halten, und auch eine Reklamation ist nicht verboten. Wenn die Suppe in einem Restaurant versalzen ist, dürfen wir das auch so sagen. Aber es muss erkennbar sein, dass es uns nicht darum geht, uns zu produzieren, sondern darum, Falsches zu verändern. Es geht nicht darum, bei einer versalzenen Suppe gleich darauf zu schließen, dass der Koch ja überhaupt nichts kann, sondern darum, Chancen zur Veränderung zu geben.

Natürlich meint Jesus auch nicht, dass wir Verbrecher nicht verurteilen, also nicht hinter Schloss und Riegel bringen dürfen. Es wäre unverantwortlich und geradezu blasphemisch, diese Bibelstellen so zu interpretieren. Worum es aber im Grunde geht, ist, dass wir nicht das Recht haben, immer zu beurteilen, wer in den Himmel oder in die Hölle kommt. Wir wissen nicht in jedem Fall, ob ein Verbrechen deshalb begangen wurde, weil derjenige, der es beging, vielleicht unter einer Psychose litt, von der wir nichts wissen und für die er nichts kann. Wir wissen auch nicht, wie viel Not vielleicht im Herzen eines Menschen ist, der gestohlen hat.

Mancher hat sich vielleicht die Hacken nach einer Arbeit abgelaufen und überall nach Hilfe nachgesucht und dennoch nichts bekommen. Und wir wissen auch nicht, was in den letzten Sekunden eines Lebens von sich gegangen ist oder geht: Vielleicht hat der ein oder andere doch noch die Kurve bekommen und die Häschergnade annehmen können, auch wenn man für sich selbst und auch sonst niemand darauf pochen sollte, denn niemand weiß, ob er nicht einen plötzlichen Tod erleidet oder in einem Zustand ist, in der er die Häschergnade nicht mehr annehmen kann. Eine solche Einstellung ist auch ungerecht und undankbar Jesus gegenüber.

Doch für uns selbst sollte nicht das endgültige Urteil gegenüber anderen feststehen. Der Stab über einen anderen ist schnell gebrochen. Darüber hinaus müssen wir immer wieder bereit sein, unser Urteil zu hinterfragen, ob es richtig ist, denn wir dürfen nicht vergessen, dass wir Menschen sind, die Fehler machen. Und wir bekommen immer wieder neue Erkenntnisse, die manches in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass auch andere Menschen sich verändern. Etwas burschikos ausgedrückt kann das heißen, dass aus dem Schnorrer von gestern ein großzügiger Mensch von heute geworden ist. Und es gibt Menschen, die als Gewaltverbrecher ins Gefängnis gekommen sind und dieses als Lämmer verlassen haben. Ein Urteil darüber, ob jemand in den Himmel kommt, steht Gott allein zu, der ja auf die Herzen und nicht auf das Äußerliche sieht und auch weiß, wer Jesus wirklich als Retter angenommen hat und wer nicht.


(Autor: Markus Kenn)


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