Nicht die Wehrlosigkeit ausnutzen!



Es ist leicht, einem Tauben zu fluchen, weil er ja nicht hören und sich damit nicht wehren kann, und es gehört auch kein besonderer Mut, sondern vielmehr ein erhebliches Maß an Gefühlskälte und Abgebrühtheit dazu, einem Blinden etwas in den Weg zu legen, damit er darüber stolpert. Insbesondere zur damaligen Zeit, als es keine Blindenstöcke und auch keine Blindenhunde gab, waren Blinde auf das Verständnis und das Wohlwollen ihrer Umgebung angewiesen, und auch heute sind Blinde auf unsere Rücksichtnahme angewiesen. Aber es geht nicht nur um die Blinden, es geht nicht nur um die Tauben, sondern generell darum, wie wir mit Wehrlosen umgehen: Es ist generell unfair und ungerecht, Wehrlose auszunutzen oder die Not der Armen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Man soll nicht in Geschäften kaufen, von denen man weiß, dass sie beispielsweise Dumpinglöhne zahlen und keine Skrupel haben, wenn ihre Produkte in Entwicklungsländern von Kindern gefertigt werden. Eine Supermarktkette, die die Tafeln mit Lebensmitteln unterstützt und durch ihre Lohnpolitik Tafelkunden gleich mitliefert, muss sich die Frage stellen, auf welchem Fundament ihr soziales Engagement steht. Diejenigen Arbeitgeber, die mit Recht lautstark fordern, dass sich Arbeitslose um eine feste Stelle, von der sie leben können, suchen sollen, müssen aber auch ihre eigene Stellung überdenken, wenn sie außer Aushilfen und Abrufkräfte unbezahlte Praktikanten reihenweise beschäftigen ohne die reelle Chance, auf einen festen und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz.

Anders ausgedrückt: Während unserer Schulzeit haben wir Jungs uns auf den Schulhof geprügelt. Das ist natürlich nicht richtig gewesen und wird auch nie richtig werden, doch wir kamen nie auf die Idee, Schwächere zu schlagen oder auf diejenigen einzutreten, die am Boden lagen oder aufgegeben haben. Die Wehrlosigkeit eines Anderen war die Grenze, die wir nicht zu überschreiten wagten. Das wäre uns selbst gegenüber den grössten Feinden, die wir als Kinder hatten, nicht in den Sinn gekommen und widersprach unserer Knabenehre.

Ich finde es auch nicht wirklich fein, wenn Autofahrer an Zebrastreifen zu hupen beginnen, weil ältere Menschen nun einmal länger brauchen, um die Strasse zu überqueren. Und es ist schlimm, die Arglosigkeit, den Leichtsinn, die Naivität, die Unerfahrenheit seines Gegenübers zum eigenen Vorteil auszunutzen. Vielmehr sollte es uns eine Ehre sein, ritterlich zu handeln und die Schwachen und Wehrlosen zu schützen.

Und mal ehrlich: Nicht nur diejenigen, die taub, stumm, blind, gelähmt oder sonst irgendwie gesundheitlich eingeschränkt sind, brauchen Schutz; auch wir haben unsere Macken, unsere Einschränkungen, unsere Behinderungen, und das gilt auch dann, wenn wir nur so vor Gesundheit strotzen. Wir können nicht alles alleine schultern, wir kennen uns auch nicht überall aus. Letztendlich kann niemand von uns alles wissen. Ich als technischer Laie bin auf die Ehrlichkeit des Verkäufers angewiesen, wenn es um Autos, Fernseher, Waschmaschinen oder Computer geht. Die Meisten von uns müssen sich auf die Diagnose des Arztes, auf den Rat eines Anwaltes verlassen können, weil uns das entsprechende Wissen fehlt, selbst die richtigen Analysen zu bewerkstelligen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Sind wir für einen Arzt nur Versuchskaninchen, sind wir für einen Anwalt nur Klienten, die man möglichst schnell wieder los werden will, dann sind wir ebenfalls in einem gewissen Maße wehrlos. Wir wollen doch nicht, dass unsere Unwissenheit ausgenutzt wird. Wir sind empfindlich gestört, beutet man unsere Wehrlosigkeit aus.

Bedenken wir, dass wir pflegebedürftig werden können. Wollen wir dann nach dem Motto behandelt werden: "Hauptsache, satt und sauber!"? Wollen wir, wenn wir vielleicht dement geworden sind, nur Vergessene sein, die keine menschliche Zuwendung mehr bekommen?

Es sollte daher für uns eine Selbstverständlichkeit sein, die Wehrlosigkeit von Menschen - seien sie blind, taub oder aus sonstigen Gründen wehrlos - nicht auszunutzen. Das bringt uns doch auch persönlich weiter. Ich erinnere mich an einen Jungen, der ungefähr 15 Jahre jung war und im Rollstuhl sass: Dennoch strahlte er eine Fröhlichkeit aus, die ansteckend war. Seine Heiterkeit trägt mich nach vielen Jahren immer noch durch schwierige Zeiten, obwohl ich ihn nur einmal gesehen habe. Aus seinen Worten habe ich sehr viel gelernt; er sagte nämlich: "Warum soll ich griesgrämig sein? Wen hilft man denn lieber: Einem fröhlichen und freundlichen Menschen oder einem unzufriedenen Choleriker? Die Tatsache, dass ich einen Rollstuhl brauche, kann ich nicht ändern, aber deshalb muss ich doch noch lange nicht auf Magengeschwüre hinarbeiten!" Wer Wehrlose behandelt, wie es sich für einen anständigen Menschen gehört, der wundert sich selbst sicher ganz oft, wie viel er von ihnen zurück bekommt. Im Übrigen hat Jesus immer auf der Seite der Schwachen gestanden und tut dies immer noch bis in alle Ewigkeit. Als Seine Jünger sollten wir Ihm gleichtun und Blinden nichts in den Weg legen, Tauben nicht fluchen und nicht an Wehrlosen unser Mütchen kühlen.


(Autor: Markus Kenn)


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