Bei Kindern sieht man sehr oft, was im Grunde bei uns Erwachsenen genauso ist: Alle wollen Häuptling sein, aber keiner will Indianer sein. Am Liebsten sind wir der Boss, und unser eigentlicher Berufswunsch ist Generaldirektor, Vorstandsvorsitzender oder Oberbefehlshaber. Auch im Glaubensleben sind wir lieber Papst als einfacher Christenmensch. Es ist ungefähr so wie in einem Schülerwitz: "Lehrer haben morgens recht und nachmittags frei." Manchmal scherze ich: "Ich weiß zwar nicht alles, aber dafür weiß ich alles besser!"
Doch wir sollen unser Herz nicht über unsere Brüder erheben: Jeder kann etwas, was wir nicht können; deshalb brauchen wir einander, und wir können voneinander lernen, weil jeder andere Ansichten und andere Erfahrungen hat. An Talmudschulen gibt es deshalb eine wunderbare "Streit"kultur: Man betrachtet eine Frage aus verschiedenen Blickwinkeln, wägt einander ab, diskutiert und debattiert. So gewinnt man Einsichten über das, was Gott meint und uns sagen möchte.
Auch in unseren Bibelkreisen haben wir die Möglichkeit, uns auszutauschen. Wenn Menschen aus unterschiedlichen Blickwinkeln eine Fragestellung oder einen Bibeltext betrachten, dann ergeben sich daraus nicht nur neue Perspektiven, sondern unser Bild wird zu einem Ganzen, und wir haben die Möglichkeit, unsere eigene Meinung zu überprüfen und zu korrigieren. Gleichzeitig profitieren auch die anderen Teilnehmer von unseren Erfahrungen und Einsichten.
So lernen wir Gottes Gebote zu verstehen und zu halten. Halten wir Seine Gebote, weil wir ihren Sinn verstehen, dann ist dies etwas Anderes als Gesetzlichkeit: Es wird nicht zu einer bürokratischen, technokratischen und damit zu einer spießigen, kleinkarierten Pflichterfüllung, sondern geschieht aus Einsicht, aus Vernunft. Wir lernen dadurch auch, die Prioritäten richtig zu setzen. Es macht einen Unterschied, ob wir sonntags unserer Erwerbsarbeit nachgehen oder ob wir etwas tun, was keinen Aufschub duldet: Jesus hat uns gezeigt, dass es nicht verboten ist, am Sabbat Gutes zu tun, und Er wies uns auch darauf hin, dass Priester im Gottesdienst ja auch am Sabbat arbeiten oder einen Jungen, der acht Tage alt ist, beschneiden ohne dadurch sündig zu werden. Es kommt also immer auf den Sinn der Gebote an und auf den Gesamtkontext.
Wir sollen Gebote deshalb exakt einhalten, weil wir sonst leichtfertig werden. Das ist so wie im Straßenverkehr. Bei uns ist der Rechtsverkehr in der Straßenverkehrsordnung festgeschrieben, und wir tun gut daran, das auch einzuhalten, denn wie oft würde es zu Unfällen kommen, wenn viele Menschen meinen, sie könnten eine Ausnahme machen und links fahren? Geisterfahrer haben auf Autobahnen aufgrund ihres Fehlers schon viele schwere, oft tödliche Unfälle verursacht.
Gottes gute Gebote wollen uns ja nicht einengen, sondern Er möchte uns dadurch helfen, dass wir unser Leben vernünftig gestalten. Stellen wir uns einmal vor, niemand würde mehr stehlen, betrügen oder morden. Unsere Gefängnisse könnten dann zumindest größtenteils umgenutzt werden. Oder wir würden das Alter wieder ehren wie es sich gebührt: Dann könnten wir sehr viele Erfahrungen sinnvoll nutzen, die uns so verloren gehen.
Wenn Ehrlichkeit herrscht, dann kommt auch Vertrauen, dann werden zwischenmenschliche Beziehungen erleichtert. Und wie viele Ehen würden nicht geschieden, wenn Treue herrschte? Wie viel Leid entsteht durch eine allzu freizügige Sexualmoral? Um wie viel leichter würde sich das Leben gestalten, wenn wir sanfter wären und friedfertiger? Wie viel Not würde gar nicht erst entstehen, wenn wir unseren Nächsten und unsere Feinde lieben würden? - Das zeigt doch, dass Gott es gut mit uns meint und auch weiß, was gut für uns ist!
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