Jesus selbst bezeichnet die Liebe als das grösste Gebot: Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und ganzem Gemüt zu lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. Die Gottes- und Nächstenliebe beinhaltet also alle Gebote. Ein Rabbiner, der gefragt wurde, was in der Bibel steht, formulierte das sinngemäß so: "Gott und seinen Nächsten lieben; der Rest ist nur Kommentar!"
Ist es nicht wirklich so, dass die Liebe alles beinhaltet, was in der Bibel steht? Wer seinen Nächsten liebt, wird ihn nicht betrügen, er wird ihn nicht bestehlen, er wird ihn nicht ermorden. Kains Brudermord war doch der sichtbare Beweis der mangelnden Nächsten- und Bruderliebe. Hätte Kain Gott durch und durch geliebt, dann wäre sein Opfer genauso angenommen worden wie das seines Bruders Abel, und er hätte sich - auch ohne Annahme des eigenen Opfers - gefreut für Gott und seinen Bruder Abel, das dessen Opfer angenommen wurde. Wenn ich Gott liebe aus ganzem Herzen, aus meiner ganzen Kraft, dann ist es mir egal, wer und durch wen und durch was Er geehrt wird, solange Er geehrt wird! Und wenn ich meinen Nächsten liebe, dann werde ich seine Freuden teilen und seine Not sehen, dann werde ich ihn vor falschen Wegen warnen und im Richtigen bestärken.
Eltern, die ihre Kinder lieben, werden es ja auch nicht zulassen, dass ihre Kinder sich am Feuer vergreifen. Sie werden sie - so gut es geht - vor schlechten Einflüssen schützen, auch wenn sie ihnen dafür so Manches verbieten müssen. Ich erinnere mich an zwei Lehrer, die ich trotz ihrer Strenge sehr mochte, denn sie waren streng, weil sie uns liebten: Sie wollten, dass wir lernten, denn Wissen schützt vor Leichtgläubigkeit. Sie brachten uns bei, über Gesagtes nachzudenken. Wir haben viel bei ihnen gelernt und auch sonst bei ihnen sehr viel gewonnen. Trotz ihrer Konsequenz haben wir Kinder, wenn wir mal gründlich Mist gemacht haben, bei eben diesen Lehrern "gebeichtet"; wir wussten, dass sie uns mit den Konsequenzen konfrontierten, aber auch, dass sie uns halfen, es besser zu machen und das Falsche so gut als möglich zu korrigieren. Und sie stellten sich auch vor uns, wenn irgendjemand uns ungerecht behandelte.
Die Lebenslaufforschung, die Bindungs- und Hirnforschung, Psychologie, Pädagogik und Soziologie beweisen ebenfalls: Kinder, die geliebt werden, sind sicherer, sozialer, einfühlsamer, lernen leichter und machen eher ihren Weg als solche, die in sozialer Kälte gross werden. Ein Kind, das sich geliebt weiss, reift geistig schneller als eines, das abgelehnt wird.
Auch gesellschaftlich ist Liebe sehr wichtig: Wie viele "Alte" verkümmern in Seniorenheimen, weil sie nicht von ihren Kindern geliebt weden. Sicher: Oft gibt es keinen anderen Weg, und mancher Senior muss in ein Pflegeheim, weil er der professionellen Pflege mit der dazu nötigen Infrastruktur bedarf. Doch besuchen kann man sie doch trotzdem. Ohne menschliche Nähe nützt kein Herzschrittmacher und kein Computertomograph etwas. Und es ist entsetzlich, dass viele ältere Menschen in einem Hochhaus einsam sterben und ihr Tod erst bemerkt wird, wenn sich die Nachbarn wegen des Gestankes beschweren. Macht das Sinn?
Eine Gesellschaft, in der die Menschen Nächstenliebe praktizieren, sieht die Not des Anderen. Es sieht den Verunglückten am Strassenrand genauso wie die Einsamkeit eines älteren Menschen und kümmert sich darum. Diejenigen, die sich in Armenküchen, in den Tafeln, in den Kleiderkammern, in der Obdachlosenhilfe engagieren, tun dies aus Liebe, und manch einer, der auf der Strasse lebte, ist wieder in Lohn und Brot, weil liebende Hände halfen. Pfarrer Siegelkow, Heilsarmisten und Sabine Ball machen und machten sehr viel für Andere: Manche Not konnte gelindert und aus der Welt geschafft werden.
Liebe fragt zudem nicht nach Gewinn, ist nicht berechnend. Dort, wo Menschen liebevoll behandelt werden, sind sie meist verwandelt. Wir gehen doch auch lieber zu dem Automechaniker, zu dem Wirt, zu dem Kaufladen, wo die Menschen ihren Beruf, ihre Produkte und ihre Kunden lieben, weil sie dadurch besonders gute Qualität bei hohem Service zu günstigen Preisen anbieten können.
Weil ich Gott aus ganzem Herzen, ganzer Kraft, ganzem Gemüt liebe - und das ist noch wenig genug! - frage ich auch nicht danach, ob ich verspottet werde, wenn ich mich zu Jesus bekenne. Das macht stark und gibt Rückgrat und Geradlinigkeit. Das ist auch für Andere von Vorteil, sehen sie so den einzigen Heilsweg, wissen aber auch, dass ich berechenbar bin. Sie wissen, dass es bei mir keine Ausflüchte gibt. Sie wissen, dass sie sich auf mich verlassen können.
Wer seinen Nächsten und seine Nächsten liebt, sieht ihre Not und handelt. Er gibt dem Hungernden nicht nur Brot, sondern sieht - so er kann -, dass er Arbeit hat, um sich selbst zu versorgen und gibt ihm so ein Stück Ehre und Selbstachtung wieder. Von jemanden, der mich liebt, einen Gefallen, eine gute Tat anzunehmen, fällt mir persönlich leichter, weil ich weiss, dass es von Herzen kommt, und es macht mich dankbarer und motiviert mich zudem, genauso zu handeln. Ohne Liebe wird jede gute Tat zur Pflicht, durch Liebe wird sie zur Freude.
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