Jesus erfüllt und überbietet das alttestamentliche Gesetz. Dies wird in den Gegenüberstellungen von Altem und Neuem (Antithesen) in der Bergpredigt deutlich. Nach den Antithesen bezüglich Töten, Ehebruch, Ehescheidung, Schwören und Wiedervergeltung folgt als sechste und letzte die Antithese zur Feindesliebe. Sie ist die Krönung und höchste Erfüllung der neuen, besseren Gerechtigkeit, die mit Jesus gekommen und ermöglicht ist (Matthäus 5,20).
Die Worte Jesu gelten jedem, der in Seiner Nachfolge steht. Wer noch nicht in der Nachfolge steht, wird durch das Hören der Worte gerufen, in die Nachfolge zu treten. Die Fernstehenden reagieren nicht mit der Annahme des Gehörten, sondern mit Erstaunen und Entsetzen (Matthäus 7,28). Angesichts der Vollmacht Jesu erkennen sie ihre Ohnmacht, angesichts der Forderungen Jesu ihr Überfordertsein. Für sie gilt in ihrem Leben das Wort "Du sollst deinen Feind hassen". Faktisch war die Situation in Israel zur Zeit Jesu so, dass man die größte Liebe dem zukommen ließ, mit dem man glaubensmäßig besonders verbunden war. Hier galt das Liebesgebot uneingeschränkt.
Für den Andersglaubenden, den Fremden oder gar den Feind blieben höchstens einige Liebeserweise übrig. Von den Rachepsalmen und ähnlichen Stellen im Alten Testament her schien es sich nahezulegen, solchen Menschen mit Hass, Verachtung und Vernichtung zu begegnen. Dies geschah denn auch im Verhalten vieler Schriftgelehrten und Pharisäer (vgl. z. B. Matthäus 23) und - ausdrücklich formuliert - in der Gemeinderegel der Gruppe der Qumran-Esséner: "Ewigen Hass gegen alle Männer des Verderbens!", d. h. gegen alle Nicht-Esséner (l. QS l, 10; IX, 2).
Dieses Liebe-Hass-Schema ("Liebe den Freund, hasse den Feind!") entspricht dem Gerechtigkeitsdenken des "natürlichen" Menschen, der keine Versöhnung durch Gott erfahren hat. Die Versöhnung ist in Jesus Christus erfolgt. Seither gilt das Liebesgebot uneingeschränkt für das Verhalten jedes Christen gegenüber Andersdenkenden, Andersglaubenden und Feinden jeder Art. Hass tötet, Liebe lädt ein. Liebe kann auch vor Recht ergehen. Dass dieses Gebot für Christen in Unterscheidung zu Nichtchristen Gültigkeit hat, wird vollends daran deutlich, dass Jesus im Zusammenhang mit dem Liebesgebot dazu aufruft, für die (nicht-christlichen!) Verfolger Fürbitte zu tun (Matthäus 5,11.44). So gilt auch für uns: "Lasset uns lieben, denn Er hat uns zuerst geliebt" (1. Johannes 4,19). Von uns aus können wir das nicht. Aber der HERR will uns die Kraft dazu schenken. Bitten wir Ihn doch darum!
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