"Vollkommen" meint hier nicht "perfekt", sondern "ganz": ganz eins mit Gott in der Liebe. Die höchste Form der Liebe ist die Liebe zum Feind. Jesus selbst hat Seine Feinde bedingungslos geliebt - selbst dann noch, als sie Ihn verspotteten, schlugen und in den Tod schickten Er betete am Kreuz: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!" (Lukas 23,34).
Die bedingungslose, sich selbst schenkende Liebe zum Feind als Ausdruck christlicher Vollkommenheit findet sich allein in Leben und Lehre Jesu begründet. Jesus selber ermöglicht uns diese Liebe, weil wir durch Seinen Opfertod am Kreuz mit Gott versöhnt worden sind, als wir noch Feinde, Sünder, von Gott Getrennte waren.
Der Überwinder der Feindschaft zwischen Gott und Mensch will auch die Überwindung der Feindschaft zwischen Mensch und Mensch. Er nimmt uns deshalb als Glaubende in Sein Versöhnungswerk hinein und macht uns zu versöhnten Versöhnern. Er trägt uns und schenkt uns Kraft zur bedingungslosen Liebe. Wenn wir dennoch versagen, dürfen wir auf Sein vergebendes Erbarmen vertrauen. Sind wir mit Jesus verbunden, so trifft uns das Gebot der Feindesliebe nicht mehr als bedrückendes Gesetz, sondern als freimachender Zuspruch, auch anderen die Liebe Gottes weiterzugeben, die wir in Jesus erfahren haben.
Feindesliebe findet ihre Grenze allerdings am Bösen in der Welt. Der Christ ist gerufen, dennoch zu lieben oder als einer, der sich dem Bösen verweigert, zu leiden. Die Obrigkeit (und auch der Christ im Amt) aber muss das Böse und den Bösen aktiv bekämpfen - aus Liebe zu dem schutzbedürftigen Guten (Römer 13,1 ff.). Für den Staat gilt es in erster Linie, die Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten - mehr kann er nicht tun, weil nicht alle Christen sind, die in der Liebe Christi stehen (sollten). In Sachen Gerechtigkeit allerdings sollte der Staat immer dann Milde walten lassen, wenn Aussicht besteht, dass der Böse durch die Erfahrung verzeihender Liebe zurechtgebracht wird.
Konkret heißt dies: Als Christ antworte ich dem, der mich persönlich verflucht, hasst, beleidigt und verfolgt, mit Liebe. Stehe ich aber in einem Amt, das mir aufträgt, andere Menschen vor Verbrechen, Terror, Mord und Unrecht zu schützen, so muss ich wie jeder Nichtchrist in dieser Position das Böse bekämpfen. Die Liebe zum Bösen oder Feind darf auf keinen Fall die Liebe zum Guten, Freund oder Bruder verdrängen, wo Gut und Böse miteinander in Konflikt stehen. Möge Gott Weisheit schenken, um hier die richtigen Entscheidungen in der Verantwortung vor Ihm zu treffen.
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